Arvid Boecker - selbstvergessen
Kunst ist Harmonie. Harmonie wiederum ist die Einheit von Kontrasten und Einheit von Ähnlichem, im Ton, in der Farbe, in der Linie. Georges Seurat
Biografie
Jedes einzelne Gemälde von Arvid Boecker ist ein Loblied auf Farbe und Rhythmus. Erst in der Annäherung an seine Bild-Welten, und gemeint ist auch physische Annäherung, entfalten die großflächigen Farbfelder ihre gesamte Wirkung. Aus der Ferne wird die Harmonie und die Geschlossenheit sichtbar, aus der Nähe die Anstrengung, die dahinter steckt, diesen Ausgleich der Kräfte zu erzielen.
Doch bleiben wir noch einen Moment auf Abstand. Die gleichmäßigen Farbfelder, senkrecht angeordnet und sichtbar voneinander abgegrenzt, wirken organisch. Sie scheinen natürlich gewachsen zu sein, sie scheinen zu verwittern und die Patina, die sie überzieht verleiht ihnen Würde und Alter. Warmer Ocker, edles Rot, sanftes Braun, milchiges Weiß, erdiges Grün und royales Blau, manchmal kräftig und selbstbewusst, wie lackiert, manchmal von Schlieren durchzogen, verschmutzt und angegraut. Im Nebeneinander der Farbfelder, die in geraden oder ungeraden Verhältnissen zueinander angeordnet sind, treffen verwandte Farbtöne und stark kontrastierende aufeinander. Mal wiederholt sich in einem Bild ein Farbton wie ein Thema in einem Musikstück, mal treffen Gegensätze aufeinander, deren Spannung den Betrachter zunächst verwirrt, zwischen denen Boecker jedoch meist geschickt vermittelt. Jedes der Bilder erscheint prozesshaft und doch abgeschlossen, jedes von ihnen kann nur so und nicht anders sein, ist ausgewogen ohne glatt zu erscheinen. Im Gegenteil: das Verhältnis von Fläche zu Fläche, das Arvid Boecker schon zu Beginn des Malprozesses festlegt, die immer gleichen Abstände und Größenverhältnisse, könnten leicht dazu führen, dass sich eine gewisse Gewöhnung einstellt. Doch das stets gleiche Konzept ist auch nach Jahren noch für Überraschungen gut. Es verhält sich wie in einer Großfamilie, wo gewisse Ähnlichkeiten über Generationen dominant weitervererbt werden, wo sich manches ausprägt und anderes in der Versenkung verschwindet, um bei irgendeinem entfernten Großneffen wieder hervorzublitzen. An eine Ahnengalerie erinnern Arvid Boeckers Serien, und Glück hat, wer viele seiner Gemälde in einem Raum versammelt sieht. Im Abschreiten dieser Ahnengalerie erkennt man die Unterschiede genauso wie das Ähnliche oder Gleiche. Man stellt Beziehungen her, zwischen den Werken, die ein Farbton oder eine Stimmung vereint, man sucht die kapriziösen Diven, die ausgleichenden Vermittler, die Verschwiegenen, die Selbstvergessenen und die schüchtern Zurückhaltenden, die Widerspenstigen, die innerlich Zerrissenen und die Anmutigen. Bei aller Farbigkeit strahlen die Arbeiten Boeckers eine große Ruhe und Gelassenheit aus - wie der Künstler selbst - zugleich aber auch eine Besessenheit, ein Durchhaltevermögen. Arvid Boecker "kaut ein Bild so lange durch, bis es stimmt."
Es wird Zeit, näher zu treten. Was sich zunächst als oberflächliche Patina präsentierte, wird bei genauer Betrachtung zum Nachhall dessen, was unter der Oberfläche liegt. Dick sitzt die Farbe auf der Leinwand, und das in unzähligen Schichten. Wie ein altniederländischer Meister trägt Arvid Boecker dünne Farbschichten auf, die sich lasierend überlagern. Die Ölfarbe entfaltet ihre ganze Magie, indem sie - schillernde Schicht über schillernde Schicht gesetzt – offen legt, was sich während des ganzen Entstehungsprozesses auf der Leinwand getan hat. Kein Arbeits- und Malschritt ist ganz verloren, auch wenn Arvid Boecker einiges rückgängig macht, indem er eine Farbfläche mit dunkleren Tönen übermalt oder wieder abträgt. So wird der Maler manchmal zum Forscher in seinem eigenen Werk, indem er wie ein Archäologe alte Schichten und Zustände sucht und wieder zum Vorschein bringt. Er ist Schöpfer und Zerstörer in einem, lässt entstehen und löscht wieder aus, kreiert und verwirft. Aber nicht aus einer Laune heraus, sondern immer im Hinblick auf das Gelingen des Bildes als Ganzem.
"Die Gesetze des Materials gelten für alle Maler, gleichviel welcher Richtung sie angehören. Wer das Material richtig verwenden und ausnützen will, muss die Gesetze kennen und befolgen. Erst die freie Beherrschung des Materials gibt die feste Grundlage, die eine Steigerung persönlichster Ausdrucksweise erlaubt" (Max Dörner, 1921).
Die Farbe ist zugleich Material und Thema der Werke Arvid Boeckers. Dabei spielt der Farbton in erster Linie keine Rolle. Sein Interesse gilt zu allererst der Farbe als Malmittel. Die Beschaffenheit des Materials und sein Verhalten lotet er in jedem seiner Gemälde von neuem aus. Dahinter steckt teilweise ein rein technisches Interesse. Die Fließeigenschaften und die Konsistenz der Farbe, dann aber doch auch die Liebe zu bestimmten Farbtönen, das Experiment mit unterschiedlichen Produkten, die auf dem Markt sind. "Tolle Farbtöne" wie Brauner Lack haben nach Boeckers Aussage großen Einfluss auf alle anderen Farben. Manche von ihnen kann man seiner Meinung nach nicht mischen, andere bewirken im Trockenen mehr als im Nassen. Beim Malen interessiert ihn nichts anderes. Was geben bestimmte Farbbeschaffenheiten ihm vor, welche seiner Handlungen zeigt eine besondere Wirkung? Malen, schauen, abwägen, malen, begutachten, entgegenwirken, schauen. Dessen wird er nie müde und hierin findet er täglich neue Herausforderungen und neuen Ansporn. Immer wieder, so sagt Boecker, sei er überrascht, wie unterschiedlich Bilder aussehen können, die die gleichen Grundbedingungen haben.
Er strebt nach dem Neuen hält aber gleichermaßen fest am Althergebrachten. Die Arbeitsmittel Ölfarbe und Leinwand auf Keilrahmen sind dabei kein Zufall, sondern beruhen auf einer Entscheidung, die der ehemalige Objektkünstler vor Jahren getroffen hat: Maler werden. Mit den traditionellen Malerutensilien und Materialien stellt er sich in die Tradition und forscht zugleich weiter an den Gegebenheiten und Möglichkeiten dieser malerischen Grundvoraussetzungen. Zugleich genießt er die Freiheit, die ihm sein Bildträger bietet: Anders als andere Malgründe wird die Leinwand, so Boecker, von Publikum und Kritikern nicht hinterfragt. Würde er hingegen auf Metall, Holz oder Kunststoff malen, wäre das immer ein Thema bei der Betrachtung.
Seine oft großformatigen Leinwände stellt er auf den Atelierboden, der mit den wilden Klecksen und dem verwegenen Farbenspiel - nebenbei gesagt - selbst eine Sehenswürdigkeit ist. Dann legt er auf dem Bildträger das Raster und den Grundton des Werkes fest. Das gibt der Arbeit Halt und ein System. Mit der Festlegung der Grundbedingungen beginnt die wochen- und monatelange Arbeit, ein Prozess der immer wieder unterbrochen wird. Boecker stellt ein angefangenes Bilder stets für eine Weile in den Trockenschrank, schenkt sich und dem Bild eine Ruhepause, weil "im Trockenen Kleines mehr bewirkt." In der Zwischenzeit zieht er ein angefangenes Bild hervor und arbeitet an diesem weiter. Seine Gemälde brauchen Zeit zum Reifen, auch das unterstreicht ihren organischen Charakter. Er setzt sich selbst kein zeitliches Limit, drängt nicht zum Ende sondern arbeitet im Augenblick. Zeitdruck ist sein größter Gegner und auch sein derzeitiger Erfolg und die große Nachfrage nach seinen Werken werden an dieser gemächlichen Arbeitsweise nichts ändern.
Auch Handbewegung und Format spielen bei Arvid Boeckers Arbeit eine wesentliche Rolle. Die Menge der einzusetzenden Farbe und die Größe der zu bedeckenden Fläche sowie die Reichweite seines Armes geben die Bedingungen des Werkes vor. Besonders bei der neueren Werkgruppe der großen Leinwände funktionierten die eingespielten Handgriffe zunächst nicht mehr, verhielt sich die Farbe anders. In so einem Fall muss sich Arvid Boecker wieder Gedanken machen, muss das Gewohnte "übersetzen" in die neuen Gegebenheiten. Dann geht er ins Museum und schaut sich an, wie die anderen das machen, was es für Strategien und Möglichkeiten gibt, den Tücken des Materials und der Proportion beizukommen. Er lässt die Farben auch mal fließen und ein Eigenleben entwickeln, bezieht den Zufall in seinen Werkprozess mit ein. So bekommt das Gemälde Struktur und die entstehenden Erhebungen verleihen der Bildoberfläche und dem Farbfeld mit ihrem Schattenwurf zusätzlichen Reichtum und Lebendigkeit. Bei aller Ruhe und Konzentration muss Arvid Boecker dabei wach sein. Er darf den spannenden Moment nicht verpassen, in dem etwas passiert, wo das Bild eine entscheidende Entwicklung durchläuft.
Immer wieder einmal kommt Arvid Boecker in seiner Arbeit an den Punkt, wo er den Faden verliert, wo alles zu schnell war, wo er Gefahr läuft den Ansatz zu verlieren. Aber bisher war kein Bild rettungslos verloren. Dabei interessiert den Maler zu Beginn und während seiner Arbeit nie, wie das Bild später einmal aussehen soll. Der Prozess, die Handlung gibt die Richtung vor, stellt neue Fragestellungen in den Raum und fordert Entscheidungen. Wenn am Ende alle Entscheidungen getroffen sind, findet das Bild seinen Abschluss.
Dennoch ist bei all der langwierigen Arbeit das Wichtigste die Leichtigkeit. Arvid Boecker hat Lust am Malen, und das ist die Voraussetzung für alles. Er muss wollen und Spaß haben, es muss ihm leicht fallen und Lust machen auf mehr. Ziel ist nicht, die Leinwand so schnell wie möglich zu füllen und zuzumalen, vielmehr sind die bereits erwähnte Langsamkeit und das Abwägen wichtiger Bestandteil seiner Werke. Als seinen Antrieb beschreibt Boecker eine ihm innewohnende "Sehnsucht nach Bildern" und so schafft er jedes Werk letztlich für sich selbst.
Obwohl Arvid Boecker seine Bilder ganz nüchtern mit Nummern versieht und den "ungegenständlichen" Arbeiten damit eine gewisse Offenheit verleiht, wecken diese doch Assoziationen. Die Werke entstehen in Serien und der Künstler benennt diese mit Titeln, die einen Bezug zur realen Umwelt herstellen. Er selbst gibt, indem er diesen Schritt vollzieht, eine bestimmte Sichtweise vor: Eine frühe Werkgruppe heißtTokyoumbra, eine andere Rubin, eine weitere, die im letzten Jahr im Heidelberger Kunstverein zu sehen war, Milch und Honig, die aktuellen Arbeiten laufen unter dem Titel Kilmuir Walk. Viele dieser Titel beziehen sich auf die eingesetzten Farbtöne und Nuancen, auf das warme Umbra, das edle Rot, Zinkweiß und ein warmes Gelb, Töne die den jeweiligen Zyklus bestimmen, auch wenn sie nicht in jedem einzelnen der dazugehörigen Bilder (mehr) zu sehen sind. Nicht nur im übertragenen Sinn spielen drei dieser Titel zudem auf Orte und Landschaften an: sie verweisen auf die japanische Metropole, auf das Paradies, das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen, sowie auf einen Landstrich in Schottland, wo Arvid Boecker im Jahr 2005 den Sommer verbrachte. In vielen der Texten, die über das Werk Boeckers verfasst wurden, spielen die Autoren auf die Ähnlichkeit der Gemälde zu Landschaften an. Max Christian Graeff prägt in seinem Text zur Saarbrücker Ausstellung das Bild von der Fahrt in einem Heißluftballon, bei der der Betrachter ruhig und gemächlich über weitläufige Kulturlandschaften schwebt. Ein wunderschöner und sehr passender Vergleich.
Doch um nicht zu sehr auf diese Ähnlichkeiten reduziert zu werden, hat Arvid Boecker nur sehr wenige Bilder mit horizontal angelegten Farbstreifen geschaffen und sich nach einem kurzen Exkurs in diese Richtung schnell wieder auf die Vertikalität zurückbesonnen. Er will sich und seine Werke nicht festlegen lassen und dennoch offen für Interpretationen und Sichtweisen sein. Der Vergleich mit Kulturlandschaften liegt nahe, haben die Bilder doch, wie bereits erwähnt, etwas Lebendiges, Organisches, Erdiges. Nicht zuletzt die regelmäßige Einteilung in immer gleich breite Farbstreifen erinnert an bestellte Äcker und Felder. Zumal Boecker offen zugibt, dass ihm neben den Werken anderer Künstler vor allen die Landschaften, die er bereist hat, Anregung und Inspiration schenken und er eingefangene Stimmungen in seinen Bilder wieder aufleben lässt. Das schottische Festland, die Isle of Skye, England und Skandinavien mit den ihnen eigenen Farbenspielen, ihrer Rauheit, der dort herrschenden Ruhe sowie dem Temperament der Wetterbedingungen, die in diesen Breiten herrschen, wirken in seinen Bildern fort. Arvid Boecker beobachtet auf diesen Reisen viel, doch wie genau und in welcher Form oder Ausprägung diese Beobachtungen und Erfahrungen einfließen, will er nicht hinterfragen und zum Thema machen.
In den neusten Werken bricht er immer häufiger mit seinem System: Er durchbricht die Grenzen der Farbfelder, durchsetzt sie mit Fremdkörpern, indem er kräftige Farbakzente mit groben Umrisslinien in eine ansonsten ruhige Fläche setzt. Diese Eingriffe sind teilweise recht dramatisch und lösen ein gewisses Unbehagen aus. Etwas bricht ein in die gewohnte Regelmäßigkeit - aber muss das ein Schaden, eine Beschädigung sein? Manchmal wird dies vom Betrachter sicher so empfunden. An anderer Stelle schaffen derartige Eingriffe einen harmonischen Ausgleich, eine sinnvolle Ergänzung und sorgen für ein Gleichgewicht in der Waagschale der Gesamtkomposition. Einen solchen Schritt vollzieht Arvid Boecker nicht von heute auf morgen. Jede kleine Neuerung wird lange und ausgiebig durchdacht und abgewogen. Auch der Wechsel zu einem anderen Format oder einer gewagten Aufteilung des Bildraums vollzieht sich langsam und mit Bedacht. Doch irgendwann stellt sich die Gewissheit ein, dass es in diese Richtung weitergehen muss. Und dann muss Boecker sein Material und dessen Bedingungen wieder ganz neu erproben und in den Griff bekommen.
Wenn Arvid Boecker Bilder schafft, dann schafft er einerseits Kunst über Kunst, dann werden Malerei und ihre Bedingungen selbst zum Thema. Aber darüber hinaus interessieren ihn auch allgemeine Fragen der Wahrnehmung und der Wirkung auf den Betrachter. Hier bezieht er auch seine eigene Stellung mit ein, ist er doch während des gesamten Malvorgangs selbst durchgehend ein Schauender und Beobachter. Er hört nicht auf, Fragen an seine Werke und die anderer zu stellen: wie es zum Beispiel dazu kommt, dass manche Farbkombinationen und Kompositionen edel, andere erdschwer und wieder andere fröhlich wirken? Die Beschäftigung mit derlei Fragestellungen und ihre Umsetzung in Malerei ist an sich nichts Neues, und die Probleme, mit denen Boecker sich beschäftigt und die er zu lösen sucht, bewegten Maler schon zu allen Zeiten. Viele von seinen Vorgängern haben gute und befriedigende Lösungen gefunden, doch eine einzige allein selig machende Wahrheit gibt es in dieser Hinsicht nicht.
Die ästhetische Qualität seiner Arbeiten, die bewegte Ruhe und die Energie, die von seinen Bildern ausgeht, sind typisch Boecker und unvergleichlich. Der Maler ist ganz und gar sichtbar in seinem Werk, in seinen Gesten und Eingriffen. Seine eigene Energie wird erfahrbar und das was ihn umtreibt wird deutlich. Arvid Boecker hinterlässt seine Spuren auf den Feldern, die er beackert.
Sarah Debatin
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